Die drei Ausstellungen – Retrospektiven von Nanni Balestrini, Hansjörg Mayer und Gerhard Rühm – sind Auftakt der Ausstellungsserie »Poetische Expansionen«, die im Sommer mit Reinhard Döhl, Helmut Heißenbüttel und Konrad Balder Schäuffelen fortgesetzt wird.
»Poetische Expansionen« präsentiert mit einer Serie ausgewählter Positionen eine der wichtigsten Tendenzen der Kunst des 20. Jahrhunderts: die Erweiterung der künstlerischen Medien. In den 1950er- bis 1970er- Jahren entstanden neue künstlerische Formen, indem die Grenzen zwischen Text, Bild, Objekt, Theater und Musik aufgehoben wurden und sich die Kunst von ihren herkömmlichen Materialien und Produktionsverfahren löste und für technische Medien öffnete.
Ziel der Ausstellungsreihe Poetische Expansionen ist zu zeigen, dass entscheidende Impulse für diese Entwicklung aus der Dichtung und der Literatur kamen. Dichter und Künstler wie Nanni Balestrini, Reinhard Döhl, Hansjörg Mayer, Gerhard Rühm und Konrad Schäuffelen traten das Erbe Mallarmés, der Futuristen und Dadaisten an, die den Text aus der Linearität und dem Zwang der Narration befreit hatten. Buchstaben, Zeichen und Laute wurden zu Material. In Form von Objekten, Aktionen und Performances eroberten sie die dritte Dimension, den Raum, und die vierte Dimension, die Zeit. Poetische Expansionen zeigt die mediale Revolution der Künste, geboren aus der Auseinandersetzung mit sprachlicher Kommunikation nach dem Ende der Gutenberg-Galaxis und dem Beginn des Turing-Universums.
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Seit den 1950er-Jahren ist Nanni Balestrini (*1935, Mailand) eine der bedeutendsten Figuren der italienischen Kultur: als Dichter, Romanschriftsteller und Verlagslektor sowie als bildender Künstler. Das ZKM widmet Balestrini, der in Deutschland vor allem als Autor politscher Romane bekannt ist, erstmals eine Ausstellung, die einen umfassenden Einblick in sein visuell-poetisches Oeuvre gibt. Collagen und Cut-Ups aus Bildern, Texten und Filmsequenzen zeigen ein Lebenswerk, das sich gegen die »Trägheit der Sprache« wandte und damit gegen die Erstarrung des Denkens und Handelns. Sie zeigen jene möglichen Welten, die wir nicht wagen sowie jene, die wir übersehen haben.
Nanni Balestrini ist einer der wichtigsten Vertreter der italienischen Nachkriegsavantgarde. In der Entstehung und Durchsetzung der literarischen Neoavantgarde nahm er als Künstler, Verlagslektor, Zeitschriftengründer und Organisator von Festivals eine Schlüsselrolle ein. Seine ersten Gedichte erschienen 1956 in »Documenti d’arte d’oggi«, der Zeitschrift des »Movimento Arte Concreta« (MAC) und der »Groupe Espace«. Als Lektor wurde Balestrini zunächst für die von Luciano Anceschi 1956 gegründete Literaturzeitschrift »Il verri« tätig, zu deren Autoren auch Umberto Eco und Alain Robbe-Grillet zählten. 1961 wechselte er ins Verlagshaus von Giangiacomo Feltrinelli. Im gleichen Jahr präsentierte er seine visuellen Collagen erstmals der Öffentlichkeit und trat als einer der Mitverfasser der literarischen Anthologie »I Novissimi« hervor. 1963 rief er mit einer Reihe von AutorInnen die »Gruppo 63« ins Leben. Inspiriert von Autoren wie Ezra Pound und T.S. Elliot grenzte sich dieser Kreis von SchriftstellerInnen durch formale und inhaltliche Sprachexperimente gegen den italienischen Neorealismus ab. Einem größeren Publikum wurde Balestrini durch seinen Roman »Vogliamo tutto« [Wir wollen alles] (1971) bekannt, mit dem er den Kämpfen der italienischen Arbeiter ein literarisches Denkmal setzte.1961 verlegte Balestrini seinen Lebensmittelpunkt von Mailand nach Rom. In Folge seines linken politischen Engagements ging er 1979 ins Exil nach Frankreich. Seit 1985 lebt und arbeitet er in Rom, Mailand und Paris. Nanni Balestrinis vielfältiges dichterisches und künstlerisches Werk basiert auf der Poetik der Collage, einem Verfahren, das sich der Brüche, Fragmente und Kombinatorik bedient. Dieses verbindende Prinzip zeigt sich in Balestrinis visuellen Collagen ebenso wie auch in seinen wegweisenden Experimenten mit computergenerierter Poesie. Bereits 1961 ließ Balestrini einen IBM-Computer durch kombinatorische Zufallsverfahren das Gedicht »Tape Mark« I generieren. Wenige Jahre später, 1966, formuliert Balestrini mit Tristano ein Projekt, das Literatur und Kunst von der einschränkenden Herrschaft der Typographie Gutenbergs befreien sollte: Jeder Buchkäufer erhält eine der 109027350432000 möglichen Versionen des kombinatorischen Liebesromans. Ein ähnliches Verfahren wandte Balestrini für den »längsten Film der Welt« »Tristanoil« an. Dies ist ein Film, der die destruktive Ausbeutung der natürlichen Ressourcen thematisiert und erstmals 2012 auf der documenta 13 gezeigt wurde.
Mit einer Auswahl aus dem Werk von Nanni Balestrini aus den Jahren 1960–2017 präsentiert das ZKM einen Künstler aller Gattungen, der durch die formalistischen Verfahren der Collage und Montage die dominierenden Erzählungen der Literatur, der Kunst, des Alltags, der Liebe, des Journalismus und der Politik auflöst. Balestrini zeigt abweichende Welten auf und öffnet den Blick für den Status quo als auch das Mögliche.
Gerhard Rühm (*1930 in Wien) ist ein Virtuose in der Erschließung intermedialer Grenzbereiche und erweiterter medialer Ausdrucksformen. Sein Schaffen verbindet Bildwerke, Musik, Dichtung, Film und Performance auf poetische Weise miteinander und eröffnet in der Überschreitung der Grenzen ‚traditioneller’ Gattungen neue ästhetische Sinnfelder. Zugleich bereiten Rühms Arbeiten intellektuelles Vergnügen und animieren erweiterte Wahrnehmungen, in denen feste Sprach- und Denkroutinen auf konzeptuelle und humorvolle Weise durchbrochen werden.
Zunächst studierte Gerhard Rühm Klavier und Komposition an der Wiener Musikakademie und bei Josef Matthias Hauer, dem Erfinder der Dodekaphonie. In den 1950er-Jahren war er vor allem literarisch tätig und erlangte mit ersten Lautgedichten Bekanntheit als experimenteller Poet. Als Mitbegründer der legendären Wiener Gruppe (gemeinsam mit Friedrich Achleitner, H.C. Artmann, Konrad Bayer und Oswald Wiener) war Rühm maßgeblich an der innovativen Expansion literarischer Verfahren hin zu neuen Ausdrucksformen beteiligt: Die Wiener Gruppe führte »Happenings« auf, noch bevor dieser Begriff erfunden war. Beim »2. Literarischen Cabaret« 1959 in Wien zertrümmerten Gerhard Rühm und Friedrich Achleitner gar ein Klavier – wohlgemerkt erstmals in der Kunstgeschichte und bevor die Fluxuskünstler zu solch radikalen Mitteln griffen. Doch die Provokation war für Rühm nur ein Nebeneffekt, der weniger den Charakter seiner Arbeiten beschreibt, denn die konservative Atmosphäre im Nachkriegsösterreich, in der er gemeinsam mit dem Zirkel seiner Künstlerkollegen darum bemüht war an die Leistungen der experimentellen Avantgarden von Expressionismus, Dada, Surrealismus und Futurismus anzuknüpfen. Charakteristisch für Rühms Schaffen ist der innovative Ansatz, die strenge Konzeption, aber auch der spontane Ausdruck.
Die groß angelegte Ausstellung »soon | just | now. gerhard rühm als intermediapionier« präsentiert beispielhaft das poetische, visuelle und musikalische Schaffen des Künstlers aus über sechs Jahrzehnten. Gezeigt werden bildnerische Arbeiten (Visuelle Poesie, gestische und konzeptionelle Zeichnungen, visuelle Musik, Fotomontagen, Buchobjekte…), Filme (Schriftfilme, Kinematografische Texte, Voice-Over-Co-Produktionen mit Hubert Sielecki) und auch Musik (auditive Poesie, Chansons, Tondichtungen…).
Die Werkschau vergegenwärtigt, dass die intermediale Ausrichtung von Anfang an ein übergreifendes und stilprägendes Prinzip im Schaffen des Künstlers bildet.
Gerhard Rühm lebt in Köln und Wien. Er lehrte 1972-1995 als Professor an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg sowie mehrmals an der Internationalen Sommerakademie für bildende Kunst in Salzburg. Seit 2005 erscheinen seine »Gesammelten Werke« im Verlag Matthes & Seitz Berlin.

Mit »The Smell of Ink« widmet das ZKM dem in London lebenden Künstler, Drucker und Verleger Hansjörg Mayer die erste umfassende Retrospektive in Deutschland. Mayer wurde mit seinen typographischen und drucktechnischen Experimenten nicht allein einer der wichtigsten Protagonisten der Konkreten und Visuellen Poesie. In Zusammenarbeit mit Künstlern wie etwa Dieter Roth, Richard Hamilton oder Tom Phillips erweiterte er auch unwiderruflich das Spektrum des Druckbaren in der Kunst.
Bereits Mitte der 1960er- Jahre wurde die Kunst- und Literaturwelt auf Hansjörg Mayer (*1943, Stuttgart) aufmerksam: 1964 erschien seine erste Edition mit dem Titel »13 visuelle Texte«. Schon 1968 widmete das Gemeentemuseum Den Haag dem gerade Fünfundzwanzigjährigen eine erste Retrospektive. Mayer war bereits als Jugendlicher mit dem in Stuttgart lehrenden Philosophen Max Bense in Kontakt gekommen, der ihn mit den neuesten internationalen Tendenzen in Kunst, Literatur und Musik und ihren Protagonisten vertraut machte.
Mayers intuitive Faszination für die Nebenprodukte des Druckprozesses, die er in der Druckerei seiner Familie entdeckte und sammelte, entwickelte sich in diesem Umfeld rasch zu einer Poetik des Materials und des Zufalls. In Dieter Roth sollte Mayer dann 1963 einen lebenslangen künstlerischen Partner finden, um sich gleichermaßen unerschrocken wie meisterhaft über die Normen des Druckereiwesens hinwegzusetzen. In Folge einer Einladung zur legendären Ausstellung »Between Poetry and Painting« (1965) am Londoner ICA zog Mayer 1967 nach England, wo er an der Bath Academy of Art sowie der Watford School of Art lehrte. Pendelnd zwischen London und Stuttgart editierte Mayer seitdem über 330 Bücher, Plakate, Filme, Schallplatten und Videos.
Die Ausstellung präsentiert Hansjörg Mayers eigenes grafisches Werk sowie eine Auswahl von Experimentalfilmen, die er zusammen mit Georg Bense und Rainer Wössner in den Jahren 1962–1963 realisierte. Sie zeigt das reiche Spektrum seines verlegerischen Wirkens von der Kunst bis zur Ethnologie.
Zur Ausstellung erscheint die Publikation »Hansjörg Mayer: The Smell of Ink and Soil. The Story of (Edition) Hansjörg Mayer«, hg. von Bronac Ferran, Walther König, Köln 2017 (17 x 23 cm, 272 S. mit teils farb. Abb., broschiert, Text in dt. & engl. Sprache)